Geschichte Medienforschung an der Universität Siegen


Die Universität Siegen wurde am 1. August 1972 als Gesamthochschule Siegen gegründet. Schon in der Gründungsphase bilden „Medien und Kommunikation“ einen der vier interdisziplinär ausgerichteten Forschungsschwerpunkte. Die Universität Siegen versteht sich in der Gründungsphase als moderne Hochschule mit interdisziplinärem Ansatz und einer engen Verbindung von Praxis und Theorie. Gründungsrektor ist der Wirtschaftswissenschaftler Artur Woll. 1980 wird die Gesamthochschule in die „Gesamthochschule-Universität Siegen“, 2003 in die „Universität Siegen“ überführt. Schon mit dem Gründungsakt 1972 wird die Medien- und Kommunikationsforschung besonders hervorgehoben – zu diesem Zeitpunkt keine Selbstverständlichkeit. Dennoch ist diese Orientierung symptomatisch für den Beginn eines sich abzeichnenden Umbruchs innerhalb der Sprach- und Literaturwissenschaften seit den Sechziger Jahren. Dabei ging es um die Erweiterung des Gegenstandsbereiches der Literaturwissenschaften auf die Rezeptionsästhetik und Rezeptionsgeschichte der Literatur, auf die sog. Trivialliteratur und über diese zu den Literatur verarbeitenden Medien wie Theater, Film und Fernsehen. Die Literaturwissenschaften und Philologien entdeckten so auf dem Weg über die Trivialliteratur schließlich das Fernsehen als neues Forschungsfeld. Helmut Schanze argumentierte bereits 1972 für Fernsehserien als literaturwissenschaftlichen Gegenstand. Und Helmut Kreuzer konnte 1975 bereits von der „Erweiterung des Literaturbegriffs“ ausgehen.


LUMIS – Institut für Empirische Literatur- und Medienforschung

Neben der Erweiterung des Forschungsgegenstands erfahren die Literaturwissenschaften in den Siebziger Jahren einen weiteren wichtigen Impuls aus der sog. Theoriedebatte und Methodendiskussion, in der hermeneutische Traditionen, Analytische Philosophie sowie sozial- und naturwissenschaftliche Positionen aufeinander prallten. Eine der Folgeentwicklungen dieser Debatten artikulierte sich als „Empirisierung der Literaturwissenschaften“. Es waren vor allem die Arbeiten des Philosophen, Linguisten und Literaturwissenschaftlers Siegfried J. Schmidt , die neben dem kulturpsychologischen Ansatz Norbert Groebens diese Richtung maßgeblich geprägt haben. Schmidt entwickelte während seiner Tätigkeit in Bielefeld die analytische und sozialwissenschaftliche Konzeption einer „Empirischen Literaturwissenschaft“.Nach seinem Wechsel nach Siegen (1979) wird diese Konzeption noch deutlicher profiliert. Siegfried J. Schmidt übernimmt in Siegen eine Professur für Germanistik und Allgemeine Literaturwissenschaft. Er gründet 1984 zusammen mit Helmut Schanze und Christian W. Thomsen das Institut für Empirische Literatur- und Medienforschung (LUMIS) als Zentrale Wissenschaftliche Einrichtung der Universität, die Vorläuferinstitution des heutigen Instituts für Medienforschung. Der Begriff „Medien“ in der Bezeichnung des Instituts ist bemerkenswert, signalisiert er doch deutlich – und dem Kontext der Siegener Literaturwissenschaft entsprechend – die Erweiterung des Fokus, wie sie erst heute mit den verschiedenen Varianten der Medienwissenschaften in großem Stil vollzogen wird. Als Zentrale Wissenschaftliche Einrichtung erfüllt das Institut fachbereichsübergreifende Aufgaben, verfolgt interdisziplinäre Forschungen und unterstützt das Lehrangebot der Fachbereiche. Mitarbeiter Schmidts waren vorerst Achim Barsch, Helmut Hauptmeier , Dietrich Meutsch, Gebhard Rusch und Reinhold Viehoff, mit der Gründung des LUMIS stoßen 1984 vom Paderborner FEoLL Peter M. Hejl , Wolfram K. Köck und Raimund Klauser hinzu. Durch die Gründung des Instituts für Empirische Literatur und Medienforschung (LUMIS) gelingt den Siegenern in den folgenden Jahren eine gewisse Konsolidierung und Institutionalisierung des empirischen Ansatzes in den Literaturwissenschaften. Außerdem wird die Siegener Forschergruppe durch ihr Engagement für konstruktivistische Positionen und die Entwicklung konstruktivistischer Kommunikations-, Medien-, Sozial- und Geschichtstheorien bekannt. Das konstruktivistische Engagement strahlt sehr erfolgreich vor allem in andere Disziplinen aus, insbesondere in die Philosophie, Soziologie und Geschichtswissenschaft, sowie die Kommunikationswissenschaft. Heute ist Siegfried J. Schmidt einem großen Publikum in erster Linie als Gestalter des konstruktivistischen Diskurses bekannt. Der Siegener Konstruktivismus greift vor allem den „Radikalen Konstruktivismus“ Ernst von Glasersfelds auf und schließt an Grundannahmen von Heinz von Foerster, Humberto Maturana und Francisco Varela an.Neben der Ausarbeitung konstruktivistischer Kommunikations-, Medien- und Sozialtheorien, die von der DFG in zahlreichen Einzelprojekten gefördert wurde, spielte das LUMIS auch bei der Beantragung und Einrichtung des ersten DFG-Sonderforschungsbereiches an der Universität Siegen ein maßgebliche Rolle. Siegfried J. Schmidt bleibt Direktor des LUMIS bis er 1997 dem Ruf auf einen Lehrstuhl für Kommunikationstheorie und Medienkultur an der Universität Münster folgt. Dieser Wechsel markiert auch seinen Abschied aus der Literaturwissenschaft. Im Jahr 2001 überführt der geschäftsführende Direktor des LUMIS, Ralf Schnell, die Einrichtung in das Institut für Medienforschung. Das Institut für Medienforschung verfolgt das Ziel einer transdisziplinären integrierten Medienforschung.


Sonderforschungsbereich (SFB) 240

„Ästhetik, Pragmatik und Geschichte der Bildschirmmedien“

Die Medienforschung in Siegen wäre ohne den Sonderforschungsbereich 240 nicht denkbar. Von 1985 bis 2000 wurden im DFG-Sonderforschungsbereich „Bildschirmmedien“ 33 Teilprojekte durchgeführt und knapp 100 Wissenschaftler beschäftigt. Die Einrichtung des SFB 240 geht zurück auf die Bemühungen des Germanisten Helmut Kreuzer, der schon seit 1972 als Gründungssenator der Gesamthochschule Siegen entscheidend zur Entwicklung des Forschungsprofils der Hochschule beitrug. 1983 regt Kreuzer die Einrichtung eines Sonderforschungsbereiches in Siegen mit dem Schwerpunkt literaturwissenschaftlicher Medienforschung an. Sonderforschungsbereiche werden auf Antrag einer Hochschule durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft eingerichtet, um temporäre und lokale Schwerpunkte in der Forschung zu setzen.Die Antragstellung wird zwischen 1983 und 1985 aus dem Fachbereich 3 (Sprach- und Literaturwissenschaften) und dem LUMIS heraus betrieben. Später kommen Wissenschaftler aus den Fachbereichen 1 (Sozialwissenschaften, Philosophie, Theologie, Geschichte, Geographie), 4 (Kunst und Musikpädagogik), 5 (Wirtschaftswissenschaften, Wirtschaftsinformatik und Wirtschaftsrecht) und 12 (Elektrotechnik und Informatik) hinzu. Damit wird der SFB 240 zu einem Musterbeispiel für eine interdisziplinäre Einrichtung der Universität Siegen.Im September 1983 wird eine Antragsgruppe gebildet, bestehend aus den späteren Teilprojektleitern Thomas Koebner (damals Marburg), Helmut Schanze (damals Aachen) und Siegfried J. Schmidt. Im April 1985 wird der Antrag von Helmut Kreuzer der Deutschen Forschungsgemeinschaft zur Begutachtung vorgelegt, im November 1985 erfolgt der Einrichtungsbeschluss des neuen Sonderforschungsbereichs 240, der nun den Titel „Ästhetik, Pragmatik und Geschichte der Bildschirmmedien“ trägt. Kreuzer wird zwischen 1985 und 1989 der erste Sprecher, gefolgt von Christian W. Thomsen (bis 1991) und Helmut Schanze. Die Arbeit des SFB 240 war überaus erfolgreich. Nach dem Erstantrag entstehen Folgeanträge in den Jahren 1988, 1991, 1994 und 1997. In den Projekten des SFB 240 greifen historisch-hermeneutische Forschungen und sozialwissenschaftlich-empirische Methoden fruchtbar ineinander. Der Erfolg des SFB-„Bildschirmmedien“ mit über 2000 Veröffentlichungen, zahlreichen internationalen Tagungen und Workshops markiert zugleich die Etablierungsphase der Medienforschung und Medienwissenschaft in Siegen und über Siegen hinaus. Ehemalige Projektleiter und Mitarbeiter des SFB 240 gestalten heute die Medienwissenschaft an zahlreichen Universitäten im In- und Ausland als Professorinnen und Professoren mit. Theorie, Geschichte und Ästhetik der Bildschirmmedien, einst im Titel des SFB 240 zusammengeführt, sind so zu paradigmatischen Grundlagen der neuen Disziplin „Medienwissenschaft“ geworden. Der SFB 240 hat so nicht nur die wissenschaftliche Landschaft in Siegen, sondern auch die deutsche Medienforschung sowie die Entstehung der Medienwissenschaft als Disziplin maßgeblich geprägt. Die Siegener Medienforschung erfüllte dabei eine Pilotfunktion auch im Verhältnis zu der in den Achtziger Jahren sich herausbildenden Medienbranche.


DFG-Forschungskolleg 615 „Medienumbrüche“

Kulturwissenschaftliches Forschungskolleg SFB/FK 615 „Medienumbrüche“ – Medienkulturen und Medienästhetik zu Beginn des 20. Jahrhunderts und im Übergang zum 21. Jahrhundert

Der Erfolg der Siegener Medienforschung zeigt sich nicht zuletzt auch an der erfolgreichen Etablierung des DFG-Forschungskollegs 615 zum Thema „Medienumbrüche“ an der Universität Siegen. Hier konnte in der Antragsstellung auf die langjährigen Erfahrungen und die einschlägigen personellen Ressourcen im Bereich der Medienwissenschaften verwiesen werden. Im Unterschied zu vergleichbaren Forschungsprojekten schließt das Forschungskolleg sowohl technologische Aspekte als auch anthropologische, kulturhistorische und literaturwissenschaftliche Fragestellungen ein, die den digitalen Umbruch im Übergang zum 21. Jahrhundert bedingen und begleiten. Der Vergleich mit der medialen Umbruchsituation zu Beginn des 20. Jahrhunderts ermöglicht die Bildung kontrastiver Schwerpunkte, die zur historischen Fundierung des Rahmenthemas Medienumbrüche dienen. Der Bildung dieser Schwerpunkte liegt die Einsicht zugrunde, dass Umbrüche nicht notwendig gesellschaftlich positiv konnotierte Folgen nach sich ziehen. Vielmehr ergeben sich aus Medienumbrüchen in verschiedenartigen Kulturen sachlich, zeitlich, sozial, medial und räumlich unterschiedliche Konsequenzen.