Hochwasser 2021:
Was folgt aus den Erkenntnissen?
In der Folge des Hochwassers im Juli 2021 mit seinen massiven Auswirkungen wurden viele wissenschaftliche Auswertungen mit unterschiedlichen Fragestellungen durchgeführt. Auch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) fördert aktuell eine Sondermaßnahme, an der u. a. das BBK beteiligt ist. An unseren Beitrag in der vorherigen Ausgabe dieses Magazins anschließend geben wir weitere Einblicke in erste Ergebnisse aus dem Projekt HoWaS2021.
Das HoWas2021-Projekt hat zum Ziel, die Hochwasserkatastrophe zu analysieren und aufzuarbeiten, Verbesserungspotenziale zu identifizieren, um anschließend konkrete Handlungsempfehlungen geben zu können. Besonderer Fokus liegt hierbei auf den Themenbereichen Kommunikation und Governance-Strukturen.
Wie auch schon in dieser Ausgabe vorausgegangenen Beitrag im Bevölkerungsschutz-Magazin 01 / 2023 möchten wir Einblick in die jeweiligen Aufgabenfelder und ersten Ergebnisse der einzelnen Projektpartner geben, denn schon jetzt ist deutlich erkennbar: Die größte Herausforderung liegt in der Umsetzung der Erkenntnisse.
Das Magazin finden Sie hier
iSchool / Institut für Medienforschung (IfM), Universität Siegen
HoWas2021: Perspektive Kommunikations- und medienwissenschaftliche Analyse des Warnsystems
Gebhard Rusch, Sascha Skudelny und Hannah Schäfer
Auf der Basis von Interviews mit im Geschehen involvierten Expertinnen und Experten (Energieversorger, Mobilfunkprovider, öffentlich-rechtlicher Rundfunk, BOS) und auf Grundlage von Dokumenten- und Medienanalysen von MoWaS-Meldungen, öffentlich-rechtlichem Rundfunk (Fernsehen) und Sozialen Medien (Twitter und Facebook) sowie mit Blick auf einschlägige Presseveröffentlichungen und den aktuellen wissenschaftlichen Forschungsstand zeichnet sich bereits ein differenziertes und gut konsolidiertes Befundbild ab zu Schwachstellen in den Bereichen Warnlogik und Warnsysteme, Erstellung, Verbreitung und Empfang von Warnungen sowie ihrer Qualität und Wirkung (Verständlichkeit, Instruktivität, Mobilisierungseffekt etc.).
Zur Qualität von Warnungen: An die Argumentation des letzten warnlogischen Abschnittes kann unmittelbar angeschlossen werden. Wie die Rezeption von Wetter-Warnungen (selbst der Stufen 3 und 4) vor dem Hochwasser 2021 gezeigt hat, sind Angaben zu erwarteten Niederschlagsmengen für Laieninnen und Laien nicht anschaulich und eindrücklich genug, um eine frühe und nachhaltige Mobilisierungswirkung zu triggern. Zudem sind die unterschiedlichen Warnstufen in der Bevölkerung praktisch unbekannt. Es fehlen Warnungen mit möglichst anschaulichen Darstellungen und Angaben der Wahrscheinlichkeit der erwarteten Arten und Ausmaße von Schäden (z. B. grafische, auch animierte Darstellungen von Überflutungsgebieten für extreme Niederschlagsmengen, Darstellungen von Zerstörungen usw.). Für die Warnung der Bevölkerung fehlt im Warnsystem vor allem die explizite Alarmierung als unmissverständliche Aufforderung zu sofortigem Handeln (Selbstschutz, Hilfeleistung). Schließlich fehlt es den Warnungen wesentlich an Responsivität, also an einem Rückkanal, über den mit Orts- und Zeitstempel der Empfang bestätigt und am besten auch die von Empfängerinnen und Empfänger ergriffenen Maßnahmen (z. B. anhand einer Auswahl von Optionen) dokumentiert und an den Warngeber übermittelt werden könnten.
MoWaS: Leider sind noch immer nicht alle Landkreise und kreisfreien Städte in Deutschland MoWaS-Nutzer. Das BBK verzeichnet z. Zt. 358 Vertragsnutzerinnen und Vertragsnutzer (108 mit MoWaS-Vollsystemen, 250 mit Zugang zum MoWaS-Portal), denen jedoch 401 Landkreise und kreisfreie Städte gegenüberstehen. Trotz weitgehender Standardisierung von einzelnen Schritten der Erstellung und Auslösungen von Warnungen ist die Bedienung des MoWaS-Systems für das Leitstellenpersonal kompliziert und noch nicht hinreichend routinisiert. So werden leider oft auch widersprüchliche Inhalte in einer Warnung oder in den Warnungen der Leitstellen einer Region ausgegeben, die von den Multiplikatoren (den Redaktionen in den Medienanstalten) aufwendig nachrecherchiert werden müssen und dort zu einer gewissen Warnskepsis mit womöglich kontraproduktiven Folgen führt.
Die Analyse der im Untersuchungszeitraum verbreiteten MoWaS-Meldungen zeigt zunächst eine insgesamt sehr geringe Zahl von Warnungen für die Katastrophenregion. Für Ahrweiler liegen überhaupt keine Warnungen vor, für Stolberg (StädteRegion Aachen) nur 4 Meldungen, für Erftstadt (Rhein-Erft-Kreis) lediglich 5. Die am schwersten betroffene Region ist also in den MoWaS-Warnungen im Untersuchungszeitraum mit einem Anteil von knapp 4% nur marginal repräsentiert. Mit Blick auf die gesamte betroffene Region steigt die Warn-Intensität sprunghaft erst an, nachdem die Katastrophe bereits eingetreten ist. Eine Frühwarn-Phase hat es hier also faktisch nicht gegeben.
Öffentlich-rechtlicher Rundfunk (Fernsehen): Betrachtet man die Berichterstattung im öffentlich-rechtlichen Rundfunk zum Hochwasser 2021 einmal im Überblick und Zusammenhang, gewinnt man den Eindruck, dass es für diese Aufgabe, vor allem mit Blick auf Frühwarnungen in den Anstalten offenbar noch gar keine speziellen Formate und Lösungen gibt. Insbesondere die Analyse aller im Zeitraum 10.07.-14-07.2021 verfügbaren öffentlich-rechtlichen Beiträge mit Ihren Rahmenprogrammen und Regionalfenstern offenbart, dass sich die Berichterstattung bis über den Tagesverlauf des 14.07.2021 im linearen Programm zunächst im Wesentlichen auf die Wetterberichte beschränkt, sich also in diesem Kontext auf lediglich jeweils 1-3 Min. abbildet, ohne begleitende Ticker-Einblendungen in anderen Sendungen und ohne anlassbezogene Änderungen im Sendeschema. Die ersten Sondersendungen, die das Sendeschema erweitern, finden sich erst im Abendprogramm des 14.07.2021, jedoch nicht primär in den reichweitenstärksten, linearen Hauptprogrammen, sondern in den Digital- bzw. Streamingangeboten von ARD und ZDF: 19:30 – 20:11 Uhr (ZDF heute live / 41 min.) und 21:30 – 21:42 (ARD Schwerpunkt / 12 min.). Anscheinend hat ein lediglich vorhergesagtes Extremereignis für die (Sonder-) Berichterstattung keinen ausreichend hohen Nachrichtenwert. Das Fernsehen hat so die wenigen vor Eintritt der Katastrophe noch verfügbaren Zeitfenster für wirksame Warnungen also nicht ausreichend genutzt und ist dadurch deutlich hinter seinen Möglichkeiten zur Mobilisierung von Selbsthilfe und zum Empowerment der Bevölkerung zurückgeblieben. Social Media – beispielhaft Twitter und Facebook: Das Potenzial der Social Media für Warnung und Mobilisierung der Bevölkerung wurde ebenfalls nicht ausreichend genutzt. Hier fehlen in den Sozialen Medien kompetente zivilgesellschaftliche Akteurinnen und Akteure, die bereits im Frühwarnstadium begründet erwartbare Extrem-Ereignisse zum Anlass nehmen, in einer Art Crowd Research oder Public Science Initiative systematisch einschlägige Erfahrungen und Wissen zur Lagebeurteilung und zu den möglichen Gefahren zusammentragen. Nach Eintreten der Katastrophe konnte die umfangreiche zivilgesellschaftliche Hilfe auch im Ahrtal wesentlich über die Social Media mit ihrer vergleichsweise großen Reichweite und engagierten Nutzerschaft organisiert werden. Facebook-Gruppen wie „Stolberg Fluthilfe“ mit 6.469 Mitgliedern (Stand: 10.02.2021) oder auch „Initiative WIRfürStolberg #gemeinsam“ mit 3.082 Mitgliedern (Stand: 10.02.2021) lassen sich beispielhaft für zivilgesellschaftliche Koordination von Hilfe über Social Media anführen. Zur Einschätzung der Relevanz dieser Hilfeleistungen muss man zur Kenntnis nehmen, dass die Notversorgung der betroffenen Bevölkerung über Wochen hinweg von den BOS allein nicht bewältigt werden konnte. Mit Blick auf die erbrachte Leistung und die potenzielle Leistungsfähigkeit des behördlichen Krisenmanagements fehlt auch die aktive Nutzung von Social Media durch BOS für Warnung und Information der Bevölkerung über alle kritischen Phasen hinweg. Es fehlt ein von BOS-Seite betriebenes professionelles Social Media Crisis Management komplementär zur eigenen Lagebeurteilung und zum Einsatzgeschehen.
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