Forschungsprojekte ISSI

 


Forschung und Projekte

Unsere Projekte fokussieren sich u.a. auf die Bereiche Mediengeographie, Mobile Medien und Medienmethodologie. Eine Übersicht aktueller Projekte finden Sie unter folgendem Link: http://www.mobilemedia.uni-siegen.de/forschung/.


Glatte Räume – multiple Distanzen: Eine praxeologische Analyse von VR-Interfaces

Ein Forschungsprojekt von Max Kanderske und Tristan Thielmann (seit 2016). Ziel des Forschungsprojekts ist es, die Interdependenzen von Realraum und virtuellem Raum zu erforschen, die den NutzerInnen im Bereich der Virtual und Augmented Reality erfahrbar gemacht werden. Grundbedingung einer solchen Überlagerung ist stets das Tracking von Elementen des Realraums, besonders der Bewegungen der NutzerInnen durch das eine Aktualisierung der Kameraposition entsprechend der Kopfbewegungen sowie die Manipulation von Objekten im virtuellen Raum erst ermöglicht werden. Der Fokus der Arbeit liegt dabei auf der Analyse einer speziellen Form des Tracking-Interfaces, die die Handlungen der User ohne zusätzliche Handheld Devices in den virtuellen Raum überträgt. Neue mit Photomischdetektoren ausgestattete Kameras ermöglichen es, durch Messung der Distanzen zwischen Sensor und gefilmten Objekten ein sich in Echtzeit aktualisierendes Tiefenmodell der Umgebung zu erstellen, das etwa als Grundlage für Gestenerkennungsalgorithmen oder zur Erstellung virtueller Abbilder realer Gegenstände genutzt werden kann. Die innerhalb der Sensormatrix eines solchen PMD-Elements stattfindende multiple Distanzmessung bildet also die Grundlage für einen Positionsabgleich von Objekten in beiden Räumen. In welchem Maße Ein- und Ausgangshandlungen zur Deckungsgleichheit kommen, wird im Rahmen einer praxeologische Studie ermittelt. Neben einer Usability Study des Umgangs mit der Interfacetechnologie sind die durch den Einsatz von VR- und AR-Technik hervorgerufene Veränderung des Körper- und Raumbewusstseins sowie die Möglichkeiten der Manipulation des Wahrnehmungsraumes weitere Schwerpunkte der Untersuchung. Weitere Dissertationsprojekte im Rahmen des DFG-Graduiertenkollegs Locating Media.


DFG Forschungsprojekt „Navigation in Online / Offline Räumen“

Laufzeit: 2016 – 2023

Projektleitung: Tristan Thielmann und Carolin Gerlitz.

Durch das gemeinschaftliche Sammeln, Zirkulieren und Neuordnen von Geodaten scheinen sich mobile Navigationsanwendungen zu einem sozialen Medium zu wandeln. Inwiefern rekurrieren die neuen vernetzten Mobilmedien dabei auf historische Praktiken kollaborativer Kartographie? Das Teilprojekt geht von der Hypothese aus, dass die unterschiedlichen Praktiken der Raumproduktion in der Nachverfolgung von Mittlerketten und Wegspuren hervortreten. In der Darlegung von medialen Operationsketten quer durch Online- und Offline-Räume sollen die verschiedenen Formen der Zusammenarbeit und Koproduktion von Personen, Artefakten und Zeichen sichtbar werden. Im Zentrum der Analyse steht dabei die analoge und digitale Karte als Plattform für die Interoperabilität verschiedener Medien.

Das zentrale Ziel des Forschungsprojekts ist die Bestimmung des wechselseitigen Verhältnisses von Raum- und Medienpraktiken. Dies soll vor dem Hintergrund der Analyse dreier Navigationsmedien geschehen: 1. Anhand der Mediengeschichte US-amerikanischer Routenführer zwischen ca. 1885 und 1902 kann gezeigt werden, dass dieses Medium kooperativ geschaffen wurde und zugleich als Kooperationsbedingung für die Handlungsmacht eines Netzwerks von lokalen AkteurInnen diente. 2. Am Beispiel von Drohnen knnen Praktiken der verteilten Raumerfassung vernetzter Kameras untersucht werden. 3. Durch die Analyse von Social Navigation Apps kann gezeigt werden, wie Crowdsourced Maps als Verrechnungsplattformen dienen, die einerseits divergente soziale, kulturelle und konomische Interessen versammeln und andererseits gemeinsam Bewegung im Raum prozessieren.

Anhand des Vergleichs der drei Korpora soll der Frage nachgegangen werden, durch welche Medienpraktiken sich die Navigation in Online- und Offline-Räumen stabilisiert. Die Vergleichsanalyse kann zudem zeigen, welchen Beitrag die kultur- wie sozialwissenschaftlich bereits erforschte Praxeologie von Karten für die Übertragung auf mobile und vernetzte Digitalmedien leisten kann.


DFG Forschungsprojekt „Wissenschaftliche Medien und Praxistheorie: Harold Garfinkel und Ludwig Wittgenstein“

Laufzeit : 2016 – 2019

Projektleitung: Erhard Schüttpelz, Tristan Thielmann und Anne Warfield Rawls.

Die Science and Technology Studies (STS) haben innerhalb von zwei Generationen der Wissenschafts- und Technikforschung in exemplarischen Analysen eine eindrucksvolle Bandbreite unterschiedlicher naturwissenschaftlicher Veröffentlichungsprozesse und Medienpraktiken untersucht: von den Inskriptionen in Labor und Feld bis zur Publikationsreife und zum Lehrbuch, von den infrastrukturellen wissenschaftlichen und technischen Standardisierungen bis zur Wissenschaftspopularisierung und öffentlichen Expertise. Im Vergleich bleibt zu konstatieren, dass die Wissenschafts- und Technikforschung der STS die Medienpraktiken und Veröffentlichungsprozesse der Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften und damit die Erschließung ihrer eigenen Herkunftsregion bislang nur zaghaft in Angriff genommen hat. Das Forschungsprojekt erarbeitet dieses Desiderat (a) vergleichend fr eine Geisteswissenschaft und eine Sozialwissenschaft (b) anhand von zwei zentralen Klassikern der Praxistheorie (c) durch die Untersuchung ihrer Kooperationsmedien:

anhand der Editionsgeschichte Ludwig Wittgensteins, die seit den 1950er Jahren eine paradigmatische Medien- und Technikgeschichte zwischen analogen und digitalen Medien (mit Pionier-Programmierungen nicht nur für den Bereich der Digital Humanities) durchlaufen hat; und

anhand der zeitgleichen Entstehung der Ethnomethodologie Harold Garfinkels, deren Medienpraktiken meist im Rahmen einer interdisziplinären Zusammenarbeit oder durch eine transdisziplinäre Übertragung gestaltet wurden, und deren zentrales Thema in der Untersuchung von ebenso universalen wie praktischen Kooperationsprinzipien bestand.

Ziel ist der Vergleich und die historische Bergung von zwei der bisher radikalsten philosophisch-sozialtheoretischen Ansätze zur Praxistheorie, d.h. zum theoretischen Vorhaben, die kooperative Praxis allen anderen semiotischen und sozialen Erklärungen vorzuordnen. Diese Wissenschaftsgeschichte der Praxistheorie dient zur Vorbereitung einer Edition der Schriften Harold Garfinkels.


Medien der Kooperation

Media of Cooperation (since 2016, DFG)

Der Sonderforschungsbereich „Medien der Kooperation“ ist eine langfristige interdisziplinäre Forschungsanstrengungen, welche die Produktion und Zusammenarbeit über Medien analysiert. Die INF-Teilprojekte des Sonderforschungsbereiches stellen die sozio-technischen Infrastrukturen zur Verfügung, um die Forschung anderer Teilprojekte und die Forschung und Innovation in E-Humanities, Digital Humanities und E-Social Science durch die Forscher selbst zu unterstützten.

 

DFG Forschungsprojekt „P01 – Medien der Praxeologie: Die „Discovery Procedures“ der Science and Technology Studies

Laufzeit: 2020 – 2023

Projektleitung: Michael Lynch, Anne Rawls und Tristan Thielmann

Das Forschungsprojekt geht von der These aus, dass die Forschungsarbeiten Harold Garfinkels nicht nur Wegbereiter der gegenwärtigen Science and Technology Studies sind, sondern einen eigenen Ansatz der Erforschung „praktischer Technologien“ offerieren, der nur partiell durch den Sozialkonstruktivismus oder die Akteur-Netzwerk-Theorie eingelöst wurde. Mit der Entstehung der Ethnomethodologie Harold Garfinkels wurden Medien- und Datenpraktiken meist im Rahmen einer interdisziplinären Zusammenarbeit oder durch eine transdisziplinäre Übertragung gestaltet, deren zentrales Thema in der Untersuchung von ebenso universalen wie praktischen Kooperationsprinzipien bestand. Seine Forschung zu sozialen und technischen Alltagspraktiken einschließlich deren Eingebundenheit in epistemische Prozesse und komplexe Situationen der Entscheidungsfindung kann als Grundlage einer digitalen Praxeologie dienen.

Anhand der Sichtung und Auswertung der bislang unveröffentlichten Studien Garfinkels kann gezeigt werden, dass zentrale Korpora in der Entwicklung der Praxeologie bislang nicht Eingang in die Medien- und Wissenschaftsgeschichte gefunden haben. Hierbei geht es insbesondere um die Bergung der Untersuchungen, die Garfinkel seit den 1950er Jahren im Zusammenhang mit der Entwicklung von Informationsgewinnungs- und Speicherungssystemen (Zatocoding) und Ende der 1960er Jahre durch Experimente im Bereich der Mensch-Maschine-Kommunikation (mit dem Computerprogramm ELIZA) durchgeführt hat. Zusammen mit den in den 1970er und 1980er Jahren realisierten Laborstudien wissenschaftlicher Entdeckungsarbeiten, die nur partiell im einschlägigen „Pulsar Paper“ (Garfinkel et al. 1981) berücksichtigt wurden, kann das Teilprojekt aufzeigen, dass zentrale medienpraxeologische Forschungsdesiderate für die Gegenwartsanalyse von Datenpraktiken genutzt werden können. Dies soll abschließend in einer Fallanalyse der digitalen Praxis im Umgang mit und der Reproduktion von „künstlicher Intelligenz“ durch Do-it-yourself Development Kits belegt werden.

Der gemeinsame Bezugspunkt dieser Studien sind die Entdeckungsprozeduren und die damit verbundene Frage: Was sind die praxeologischen und sozio-technischen Kooperationsbedingungen dessen, was Garfinkel als „knowing how to get the phenomenon out of data“ ins Zentrum seiner Medien- und Laborforschung gestellt hat? Insofern kann sowohl die Bergung der historischen Fallstudien als auch die Gegenwartsanalyse zeigen, dass Medien- und Datenpraktiken irreduzibler Teil der Praktiken sind, die durch die Ethnomethodologie untersucht werden. Das Teilprojekt kann so deutlich machen, in welcher Weise sich digitale Medien durch ihre dokumentarische Praxis respezifizieren lassen und inwiefern sich der Einsatz von wissenschaftlichen Medien und Instrumenten als kooperative Datenpraxis skizzieren lässt.

 

 

Forschungsprojekt „Ein Archiv lebendiger Dokumente – Datenwissenschaftliche Zugänge zum Aufbau eines digitalen Archivs der Werke Harold Garfinkels

Laufzeit: Seit 2019

Projektleitung: Tristan Thielmann und André Heck

Das Forschungsprojekt wird das Archiv des Begründers der Praxeologie in digitaler Form zur Verfügung stellen. Schon zu Lebzeiten Harold Garfinkels (1917–2011) war sein Archiv ein Mythos, da es in seiner netzwerkartigen und zugleich sequentiellen Organisationsstruktur den wissenschaftlichen Anspruch der Praxeologie dokumentierte und bis heute eine wichtige Ressource für Gegenwartsforschung geblieben ist. Das Archiv umfasst Dokumente im Umfang von ca. 1 Million Papierseiten, ca. 1000 Videodokumentationen und ca. 2000 Tonaufzeichnungen aus Interviews und wissenschaftlichen Diskussionen mit den führenden Wissenschaftlern jener Zeit. Das frühe Schaffen Garfinkels ist weitgehend unbekannt und unerforscht, da nur ein Bruchteil seiner Schriften veröffentlicht wurde. Gleichwohl waren seine unveröffentlichten Manuskripte durch ihre interne Zirkulation bereits historisch wirkungsvoll, z.B. das Manuskript „Towards a Sociological Theory of Information“, das im Archiv von Erving Goffman wiederentdeckt wurde.

Die Praxeologie, wie sie von Garfinkel geprägt wurde, kann als wissenschaftstheoretische Grundlage für eine Reihe von Disziplinen dienen. Das betrifft das Feld der Sozial- und Medienforschung unter Einbeziehung der Rechtswissenschaft, Gender Studies, Technikforschung und HCI, für die Garfinkel Grundlagenforschung betrieben hat. Das betrifft insbesondere aber auch die Analyse und Beschreibung von Sensortechnologien. Garfinkel hat sich bereits in den 1950er Jahren mit der vollumfänglichen Erfassung von Situationen durch „sensory media“ befasst. Zudem bietet es die Möglichkeit, auf zentralen Forschungsfeldern der Digital Humanities vorzustoßen.

Das innovative Forschungspotential erschließt sich auf drei Ebenen:

 

  1. Digitalisate – gelebte Dokumente
    Der praxeologische Ansatz, den Garfinkel vertritt, stellt die grundlegende Frage: Was ist unter digitalen Bedingungen ein Dokument? Im Sinne Garfinkels ist ein „gelebtes Dokument“ dazu in der Lage, selbst seine Entstehung, Genese, Verteilung, Veränderung und Transformation zu offenbaren. Dies stellt besondere Anforderungen an die Erstellung der Digitalisate, die von Innovative Document Imaging erstellt werden:

 

  1. Datenbankontologie und -modellierung
    Die Praxeologie geht zudem von einem nutzerorientierten Verständnis der Datenorganisation aus, das sich an relationalen Datenbankmodellen orientiert. Entsprechend sollten die Digitalisate in einer Graphdatenbank zusammengeführt werden, in der alle Knoten den gleichen ontologischen Status haben. Dadurch eröffnen sich nicht nur Möglichkeiten, klassische Editionstypen in digitaler Form zu simulieren, sondern die verfügbaren Daten neu zu verknüpfen. Das Garfinkel-Archiv bietet hierzu besondere Voraussetzungen, da sämtliche Video-, Ton- und Textdokumente, die das Korpus der Ethnomethodologie bilden und an der Entstehung der Praxeologie beteiligt waren, lückenlos vorliegen. Durch die Verknüpfung unterschiedlicher Dokumentenarten ist eine solche digitale Edition daher in der Lage, das Leseverständnis der komplexen praxeologischen Texte zu erhöhen und einen wissenschaftlichen Mehrwert zu schaffen.

 

  1. Situationsbezogener Zugang
    Gemäß Garfinkels eigener informations- und kommunikationstheoretischen Vorstellung basiert jedwedes Netzwerk, so groß es auch sein mag, auf einem lokal und situativ verorteten Zwei-Personen-Netz. Der Anspruch der Praxeologie ist es zudem, eine Situation möglichst vollständig zu erfassen und zu repräsentieren. Entsprechend sollte ein Zugang zum Archiv bzw. zu einer digitalen Edition, die Garfinkels eigenen Ansprüchen gerecht werden will, in Form eines situierten Conversational Interface und einer drei-dimensionalen VR-/AR-Darstellung (Holospace) geschehen. Hieran schließt sich weitere Grundlagenforschung im Bereich der HCI an. Conversational Interfaces zählen zu den zentralen Zukunftstechnologien einer mobilen digitalen Gesellschaft.

Die praxeologischen Forschungsziele erstrecken sich somit auf drei Ebenen: (1) Auf inhaltlicher Ebene bietet das Harold Garfinkel Institut Zugang zu bislang unveröffentlichten Büchern und Manuskripten. (2) Auf der Vermittlungsebene eröffnet sich durch einen kontext- und situationsbezogenen Zugang ein besseres Textverständnis der Schriften Garfinkels. Die Digitalisierung des Archivs ist deshalb (3) nicht nur unter methodischen oder technischen Aspekten von Interesse, sondern im Sinne einer reflexiven Digitalisierung auch in Bezug auf die Implikationen für die Analyse digitaler Praktiken und die Gestaltung digitaler Infrastrukturen.